Corona-Krise – laut nachgedacht
Schon sehr bald wird jeder jemanden kennen, der diese Krise hinter sich gelassen hat.
Was werden wir geerntet haben, welche Erkenntnisse werden wir unseren Kindern mitgeteilt haben? Welche Veränderung wird in uns stattgefunden haben? Welche neue Normalität werden wir nach der überstandenen Krise leben?
Unterschätze nicht dein gutes Handeln,
Dhammapada
und denke nicht: »Das hat ja keine Folgen für mich!«
Tropfen für Tropfen füllt sich der Krug,
und ebenso füllt sich randvoll mit Gutem der Weise.
Vor eineinhalb Jahren lebten wir in dem Glauben, alles in einem gesunden Maße kontrollieren zu können. Unser Sein war geprägt von der Illusion einer Unverletzlichkeit. Das Vertrauen in die Wissenschaft und deren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten stellte sich allerdings als Trugschluss heraus. Mit Anfang des Jahres 2020 sollten wir hautnah erleben, wie diese sicherheitsversprechende Seifenblase – angesichts der auf uns zurollende Pandemie – sehr schnell zerplatzte. Durch Sätze wie: „Bald wird jeder von uns jemanden kennen …“, haben wir unsere Verletzlichkeit leibhaftig realisieren müssen.
In diesen Zeilen möchte ich mich der Frage stellen, welche Chancen diese Krise bietet. Mitunter führt die Pandemie zu einem Paradigmenwechsel.
Beginnen möchte ich mit dem Gedanken der kollektiven Erstarrung. Ich erinnere mich nur zu gut an den Moment, in dem ich den Beschluss fasste, nun doch in den Supermarkt zu gehen, um mich mit dem Nötigsten einzudecken. Ein Moment, in dem sich meine Welt um 180° gedreht hatte. Meine scheinbare Sicherheit wich dem Gefühl der Angst. Einer Angst, auf die ich in keiner Weise vorbereitet war. Bilder von überfüllten Krankenhäusern, Elend, wirtschaftlichen Katastrophen, ja bis zu Gedanken an meinen persönlichen existentiellen Ruin begleiteten mein Handeln. Schon oft habe ich Menschen eine Einführung in die physiologischen und neuronalen Vorgänge in solchen Situationen, in denen die Stressreaktion in uns aktiv wird, gegeben, nur erlebt hatte ich sie nie. Und, um ehrlich zu sein, diese Erfahrung hätte ich mir am liebsten erspart.
Nach diesem Erleben, den Einkauf im ausgeräumten Supermarkt und der Idee vom Untergang, schloss ich meine Haustüre hinter mir. Auch dieser Moment ist erwähnenswert, gefühlt wurde mir mit dieser Handlung bewusst, dass ich mich in den rettenden Zustand der Starre begebe – wie viele andere wohl auch. Gefühlt war es ein globales Sich-Totstellen, in der Hoffnung, dem Virus zu zeigen, dass wir gar nicht da sind. Eine bemerkenswerte Ruhe senkte sich über die Stadt Graz – und vielleicht über die gesamte Erde.
In jenen Momenten ist wohl sehr schnell klar geworden, dass wir ohne unseren Nächsten nicht existieren können. Es wurde die Solidarität bekundet, der Einkauf für den gefährdeten Nachbarn erledigt, und Balkonkonzerte gegeben. Sogar die Polizei startete eine Aktion und beschallte uns mit „I´m from Austria“. Schön.
„Ich habe 60 Jahre lang gründlich nachgedacht.
Dalai Lama
Und die Schlüsselerkenntnis ist, zu verstehen:
Nichts existiert unabhängig.“
Die Tatsache, dass wir nicht voneinander getrennt sind, dass kein Lebewesen auf dieser Erde unabhängig vom nächsten Lebewesen existiert, ist wohl einer der wesentlichsten Aspekte, die uns diese Krise aufzeigt. Was wir unserem Nächsten antun, oder auch nur dabei zuschauen, wie es jemand Anderer macht, kommt letztlich auf uns alle zurück. Das gilt für eine Flüchtlingsthematik ebenso wie für das Klimathema, die Globalisierung und die Wirtschaft, die immer noch mehr wachsen möchte. Diese Pause von der Unbeschwertheit zeigt uns in einer gewissen Brutalität, dass wir ein Teil eines Netzwerkes sind, in dem wir miteinander und nicht unabhängig voneinander sind.
Wenn ich auf die positiven Auswirkungen dieser Krise schaue, ist wohl die Wirkung auf das Klima eine der bemerkenswertesten Veränderungen. Neben der Stille in der Stadt ist die Qualität der Luft ein Geschenk, das ich mit offenen Armen empfangen habe. Was alles möglich ist. Auf den Fotos meines letzten Sommerurlaubs, den ich in den österreichischen Alpen verbracht habe, ist kein einziges Flugzeug am Himmel abgelichtet. Wäre eine derartige Veränderung ohne diese Krise möglich gewesen?
Eine weitere Chance sehe ich in der Tatsache, dass Menschen auf das Wesentlichste reduziert wurden. Sie bietet die Möglichkeit, über den existenziellen Sinn des eigenen Seins zu reflektieren.
Es ist nicht meine Absicht, die Problematik dieser Krise weg zu positivieren. In unserer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft macht sich neben dem Schrecken, der scheinbar kein Ende nimmt, eine gewisse Überforderung breit. Einsamkeit, die Angst vor dem Nächsten (der eigentlich ein rettender Anker sein könnte, zumindest wenn wir die Theorie rund um die Trauma- und Stressreaktion mitdenken) verändern etwas in uns. Auch wenn wir gut durch diese Krise begleitet werden, stellt sich die Frage nach der Selbstbestimmung, und dennoch macht sich eine gewisse Hilflosigkeit und Ohnmacht breit. Wir finden einen persönlichen Umgang mit diesem Aspekt. Ich möchte an dieser Stelle zwei konträre Handlungsalternativen erwähnen.
Die eine ist die Hingabe an die Angst. Sie betrifft jene Menschen die, allein im Auto sitzend, eine Maske tragen. Dieses Verhalten ist aus neurobiologischer Sicht auch verständlich, es liegt in der Tatsache begründet, dass es in einer Stresssituation zwischen einer Trennung des autonomen Nervensystems und dem frontalen Kortex kommt. Das Bewusstsein und das logische Denken sind dabei im Extremfall für unser System nicht mehr zugänglich. Dabei übernimmt die Angst die Kontrolle.
Die davon abweichende Handlungsalternative ist die Verdrängung. Sie trifft auf jene Menschen zu, die die Tatsache verweigern, dass eine gewisse Gefährdung durch das Virus existiert. Sie spiegelt wohl auch eine erfolgreiche Art wider, einen Umgang mit dem Schrecken zu finden. Natürlich gibt es auch einen Markt, der auf diese Menschen abzielt. Viele nennen sie Verschwörungstheoretiker.
Ich kann beide Seiten verstehen und als Bewältigungsmechanismen wertschätzen. Dennoch bleibt es – angesichts meiner eigenen Betroffenheit und Involviertheit – eine große Herausforderung, Menschen in dieser Situation zu begleiten. Eine hilfreiche Beziehung anzubieten, wenn mir selbst die Angst in den Knochen steckt, ist ein Paradoxon, das auch in meiner Intervisionsgruppe immer wieder thematisiert wurde. Mir hilft dabei, neben der Tatsache, dass ich einer wirtschaftlichen Gefährdung zurzeit nicht ausgesetzt bin, mein soziales Umfeld. Den Begriff Social-Distancing verwende ich schlicht und ergreifend nicht. Angesichts der wissenschaftlichen Daten ist eine physiologische Distanz ausreichend. Ich plädiere sogar darauf, dieses Unwort des Social-Distancing aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entfernen. Sprache schafft Realität.
Wenn wir die Krise als Chance genutzt haben, werden wir die Spuren unseres Seins betrachten können. Neben der Tatsache, einen Umgang mit der Angst und der Hilflosigkeit gefunden zu haben, werden wir nachgedacht haben über unsere eigene Verletzlichkeit und die Verletzlichkeit unseres Systems. Wir werden wissen, dass Sicherheit nur ein vermeintlicher Trugschluss ist. Wir werden im besten Fall über unsere Lebensgestaltung nachgedacht haben. Wir werden näher an dem sein, was wir wirklich brauchen. Und wir werden uns der Tatsache gestellt haben, dass die Welt und wir selbst eine Veränderung durchlaufen haben.
Nichts wird sein, wie es war – wolle die Wandlung.