Laut nachgedacht, oder wie Contact Improvisation mein therapeutisches Sein verändert hat
Mit dem Start der Ausbildung zum Psychotherapeuten entdeckte ich für mich eine Tanzform, Contact-Improvisation, die mein Leben maßgeblich veränderte und in der ich weiterhin wachse. Contact-Improvisation ist eine frei improvisierte Tanzform, in der sich zwei oder mehr Menschen tanzend, sich bewegend, begegnen.
„Die Contact Improvisation öffnet uns die wundervolle und höchst genüssliche Art, miteinander zu kommunizieren und zu sein, die ohne die Enge und Missverständlichkeit der Sprache auskommt.“
Pourian, 2016, S. 6
Das Erleben des Tanzes, der Gemeinschaft dahinter und der Grundprinzipien von Contact-Improvisation ließen mich mein „In-Kontakt-Sein“ mit Menschen und der Welt neu erleben und erfahren. Die Reflexion darüber wirkt auch in mein therapeutisches Handeln und in meine Haltung als Therapeut.
Ich erlebe Contact-Improvisation als einen sinnlichen, körperlichen und ganzheitlichen Pfad der Erkenntnis. Im Tanzen schöpfe ich aus dem impliziten Wissen, aus den in den Zellen gespeicherten Erfahrungen und Bewegungen und bringe es in mein Wahrnehmungs- und Bewusstseinsfeld. Es stellt vordergründig eine Begegnung mit mir und meinem eigenen Sein dar. Für mich war es immer von Bedeutung, dieses Erleben auch in einen kognitiven Kontext zu bringen, das Erleben zu symbolisieren, einen auch sprachlichen Ausdruck zu finden. Dennoch bleibt es eine Annäherung und kann den wahren Kern des Erlebens nie zur Gänze erreichen. Contact-Improvisation ist ein nie enden wollender Prozess, ein Dialog zwischen Körper und Geist, der sich gegenseitig durchdringt. Wir bemerken vielleicht, dass Körper und Geist dabei keine voneinander trennbaren Einzelteile sind – sie stellen eine Einheit dar, die von allem Lebendigen durchdrungen ist.
Der erste Schritt in jedem Tanz ist der Kontakt zu mir selbst, das Wahrnehmen des momentanen Seins, der Körperlichkeit, der Gedanken, des Im-Raum-Seins. Dabei ist der Kontakt mit unserem beständigsten Tanzpartner hilfreich, dem Boden. Der Boden hilft mir dabei, meine Wahrnehmung zu schärfen, mich in Bezug zum Raum zu setzen, mich zu verorten. Wo berührt mich die Erde, wo entsteht Kontakt und in welcher Qualität geschieht das? Wo bekomme ich Unterstützung, wo Widerstand, wo kann ich in den Boden fallen, wo erreicht mich der Boden? Das geschieht im Liegen, Sich-Drehen, im Gehen oder Laufen. Es ist der Ort, an den ich zurückkomme, wenn ich mich im Tanz mit einer anderen Person verliere. Der Boden gibt mir Feedback, ermöglicht mir wahrzunehmen, wie ich atme, wie mein Herz schlägt und wie ich mich im Tanz mit Anderen bewege.
Aus dem Erleben meines Seins, aus dem Ganz-bei-mir-Sein, entsteht im Tanz mit Anderen die Möglichkeit, so etwas wie „Flow“ zu erleben. Individuen begegnen sich, folgen ihrer eigenen Spur, ihrem Sein, folgen ihrem eigenen Felt Sense. In diesem diversen Raum, der etwas Neues entstehen lässt, entsteht Begegnung. Es ist ein Begegnen, das offen ist, das Freiraum schafft. Begegnung erlebe ich als ein Bezogen-Sein, in der sich mein Bewegen mit dem Sein der anderen Person verbindet, sich durchdringt, sich inspiriert. Mein Tanz erhebt sich dabei in neue, unerwartete Dimensionen und bietet viel mehr Möglichkeiten, meinem Sein Ausdruck zu verleihen. Es ist ein ko-kreativer Prozess, in dem wir uns gegenseitig beflügeln und in dem der Raum für Erweiterung entsteht.
Ich erlebe mich im gemeinsamen Tanz, als ob es keine Trennung gäbe. Es ist ein Auf-mich-und-die-andere-Person-Hören, dem was folgt und dem was führt. Wenn wir uns auf diese Weise von den Ideen, dem Bewegen, dem Sein der anderen Person und dem „Mich-anders-Erleben“ verändern lassen, brauchen wir Mut. Ich erlebe mich als selbstwirksam, bemerke, dass ich nicht unabhängig existiere, dass wir uns bedingen. Der gemeinsame Tanz folgt keinen Normen, er entsteht aus dem Moment heraus, er ist frei von Bewertungen. Dieser „Flow“ entsteht nur, wenn wir nicht wissen, wohin uns der Tanz führt und woher er kommt. Dabei ist es von Bedeutung, ohne Erwartung zu sein, den Tanz jedes Mal neu von einem neutralen Punkt aus zu beginnen.
Nach einem gemeinsamen Tanz erlebe ich mich beschenkt, bin erfüllt und verändert, manchmal auch verstört und aufgerüttelt. Als ob ich durchdrungen bin von dem Sein der anderen Person. Ich erlebe Contact-Improvisation als eine Möglichkeit für einen Paradigmenwechsel, für ein erfülltes Miteinander.
Transfer in meinen therapeutischen Alltag
In meinem therapeutischen Alltag hilft mir das Bild vom gemeinsamen Tanz. Das Nichtwissen, wohin unsere gemeinsame Reise geht, ist erfüllt von den zuvor beschriebenen Prinzipien und vor allem von den Erfahrungen, die ich im Tanz gemacht habe. Diese Erfahrungen ermöglichen es mir, eine Begegnung zu schaffen, die eine eher holistische Dimension erreicht. Die Person, der ich in meiner Praxis begegne, wird damit nicht zum Objekt meiner Bewertung: ein gemeinsames Erleben entsteht.
Die Wirklichkeit des Anderen erfahre ich in seiner Miene, seiner Gestik und in seinem Leib als Ganzem. […] In der leiblichen Begegnung mit Anderen nehme ich einen »beseelten Körper« wahr, oder die wirkliche räumliche Ausdehnung eines leiblich verfaßten[sic] Subjekts.
Fuchs, 2000, S. 138
Damit docken wir nicht nur an unser implizites Wissen an, auch an dem Organismischen der anderen Person. Es ist eine vielseitige Begegnung, in der sich ein Resonanzraum öffnet, in der Veränderung möglich wird. Darin begegnen wir uns mit „fresh eyes“, etwas Neues kann entstehen. Vor allem erlebe ich das therapeutische Setting dabei nicht als Einbahnstraße, die nur die Klient*innen verändert. Ich erlebe es als einen gemeinsamen Tanz, der mich gelehrt hat, die Prinzipien von Rogers in einem differenzierteren Licht zu betrachten. Wenn es gelingt, uns selbst als ganzheitliche Wesen zu erfahren, so wie ich es in der Contact-Improvisation erfahre, dann entsteht Begegnung von Mensch zu Mensch.
„Der Mensch verfügt über ein Potential an unerhört breitgefächerten intuitiven Kräften. Wir sind in der Tat weiser als unser Verstand. Dafür gibt es viele Beweise. Allmählich kommen wir darauf, wie jämmerlich wir die Fähigkeiten des nichtrationalen, kreativen, ‚in Metaphern sprechenden‘ Geistes – der rechten Hälfte unseres Gehirns – vernachlässigt haben.“
Rogers, 1980/1980a/2007, S. 49
Ich kann nur dazu einladen, uns mehr und mehr auch als körperliche Wesen kennenzulernen und mit unserem organismischen Sein auseinanderzusetzen – es macht uns reicher!
Literatur
Fuchs, T. (2000). Leib, Raum, Person: Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie. Klett-Cotta.
Pourian, H. (2016). Contact Improvisation als Zukunftslabor. In H. Pourian (Hrsg.), Eine berührbare Welt. Contact Improvisation als gesellschaftsbewegende Kultur. Eine Textsammlung. Dresden: contact bewegen e.V.
Rogers, C. R. (1980a/2007). Der neue Mensch (Konzepte der Humanwissenschaften, 8. Aufl age). Stuttgart: Klett-Cotta (Original erschienen 1980).